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Werden und Vergehen - ein Umgang mit Vergänglichkeit
Aktualisiert: 22. Apr. 2022
Wir Menschen leben oft sehr oberflächlich, wie nach einem vorbestimmten Plan. Unsere Jugend verbringen wir mit Ausbildung; dann finden wir einen Job, begegnen jemandem, heiraten und haben Kinder. Wir bauen oder kaufen ein Haus, versuchen Karriere zu machen, träumen [...] von einem Zweitwagen. Wir fahren mit unseren Freunden in Urlaub. Wir machen Pläne für die Zeit, wenn wir in Rente gehen. Das größte Dilemma, mit dem wir uns konfrontiert sehen, besteht aus Fragen wie "Wohin fahren wir im nächsten Urlaub?" oder "Wen laden wir zu Weihnachten ein?" Unser Leben ist monoton und belanglos, verschwendet in Trivialitäten [...]. (Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben, Rinpoche, 2010:37)
Geht es dir auch so, dass du dir manchmal denkst, die Zeit vergehe immer schneller und schneller? Tage rauschen wie Stunden dahin und ganze Wochen verfliegen wie wenige Tage? Du stehst morgens auf, dann vergehen ein paar Momente und schon sitzt du abends vor dem Fernseher, erschöpft vom Tag?
Unsere Tage sind vollgefüllt mit Dingen, die wir zu tun haben, und selbst am Wochenende sind wir mit Freizeitaktivitäten und familiären Verpflichtungen verplant. Sobald wir einmal für kurze Zeit nichts zu tun haben, erschrecken wir uns und suchen sofort nach einer Beschäftigung: wir könnten ein Buch lesen, auf Social Media das Leben anderer Menschen beobachten, einen Film schauen, die Wohnung oder das Haus aufräumen, lange liegengebliebene Zeitschriften durchblättern, etc. Sobald wir etwas gefunden haben, das wir TUN können, sind wir zufrieden und wägen uns in Sicherheit.
Seit ich ein kleines Kind bin, verabscheue ich Zahnarzt-Besuche. Also habe ich mir eine kleine Strategie zurecht gelegt, die mich die Zeit dort leichter aushalten lässt: Ich denke gleich zu Beginn des Termins ganz fest daran, dass schon in 1-2 Stunden (Spielfilmlänge, pah!) bereits alles hinter mir liegen und der ganze Spuk vorbei sein wird. Ich mache mir konkret bewusst, dass dieser Termin vergänglich ist und denke mit einem Gefühl von Dankbarkeit: "Auch dies geht vorüber". Was beim Zahnarzt so gut funktioniert (mich nämlich in die "Zukunft" zu flüchten) ist jedoch in anderen Kontexten nicht immer ratsam: beispielsweise wenn wir Pläne machen, die auf einen längeren Zeitraum in der Zukunft ausgelegt sind. "Dann, in ein paar Monaten, wenn wir ins neue Haus/die neue Wohnung übersiedeln..." oder "Dann, in zwei Jahren, wenn wir endlich finanziell unabhängig sind" oder "Dann, wenn wir endlich verheiratet sind" oder "Dann, wenn ich endlich..." (name it)
Jeder von uns kennt solche Gedanken - wir schmieden Zukunftspläne und denken uns Bedingungen für Ereignisse und vor allem Gefühle aus!
Der Nachteil daran ist jedoch, dass das Hier und Jetzt - das echte, reale Leben - an uns unbeachtet vorüberzieht. Oftmals passiert es, dass der "Tag X", auf den man so lange gewartet und hingearbeitet hat, eintritt und man dann erschrocken denkt: "Wow, wo ist die Zeit geblieben? Gerade schien es noch so weit weg, und nun ging es ratz-fatz! Wie konnte das so schnell gehen - was hab ich eigentlich die letzten Monate gemacht?!"
Natürlich ziehen wir bei all unseren Zukunftsplänen auch nie in Betracht, dass unsere eigene Existenz nicht unendlich ist - wir sind schließlich zu beschäftigt, um zu sterben!
Unbewusst denken wir, dass wir vor dem Zugriff des Todes geschützt sind, solange wir nur genug zu tun haben...
Unser Leben ist so hektisch, dass ein Nachdenken über den Tod das Letzte ist, wofür wir Zeit haben. Wir ersticken unsere geheime Angst vor Vergänglichkeit, indem wir uns mit immer mehr Gütern umgeben, mit immer mehr Dingen, mit immer mehr Bequemlichkeit, bis wir schließlich zu Sklaven all dieser Umstände werden. Unsere gesamte Zeit und Energie erschöpfen sich in ihrem Unterhalt. Schon bald besteht unser einziges Lebensziel darin, alles so sicher und überschaubar wie nur möglich zu halten. Wenn Veränderungen eintreten, finden wir als Gegenmittel ganz schnell schlaue, kurzfristige Lösungen. Und so geht unser Leben dahin, bis uns eine schwere Krankheit oder ein Schicksalsschlag aus unserer Betäubung reißt." (Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben, Rinpoche, 2010:37)
Doch man muss gar nicht so lange warten, um aus dieser "Betäubung" aufzuwachen. Das Leben bietet uns immer wieder größere und kleinere Chancen und Gelegenheiten, die Vergänglichkeit aller Dinge (also auch unser selbst) zu reflektieren. Wir alle erleben hin und wieder Momente, die uns aufrütteln: Zum Beispiel gehen wir über die Straße und werden nur ganz knapp nicht von einem Auto angefahren. Oder wir sitzen selbst im Auto, sind für einen Bruchteil unachtsam und bemerken plötzlich, wie wir von der Spur abkommen und fast einen Unfall verursachen. Oder wir rutschen aus und fallen auf den harten Boden, die Luft bleibt uns weg.
In solchen Situationen gibt es immer diesen einen, kurzen Moment, wo alles still zu stehen scheint. Ein Moment, in dem wir geschockt sind von der Erkenntnis, dass wir nicht wissen, wie diese Situation nun ausgehen wird... Plötzlich sind wir hellwach und völlig im Hier und Jetzt - wir sind uns der Bedrohung unserer eigenen Lebendigkeit zu 100 % bewusst (und niemand würde nun über die To Do's der kommenden Woche nachdenken...).
Und für alle, die es gerne etwas weniger dramatisch haben: Auch auf völlig undramatische Art und Weise lehrt uns das Leben selbst, dass alles und jeder vergänglich ist - Pflanzen blühen und verwelken, es wird Tag und dann Nacht, Freunde kommen und gehen, wir gebären Kinder und begraben Angehörige, wir atmen ein und atmen aus. In jedem Moment, bei allem was wir tun, können wir das Werden und Vergehen beobachten, wahrnehmen, spüren.
Vielen Menschen jagt die Erkenntnis der Vergänglichkeit große Angst ein - nicht zuletzt deshalb, weil dieser Prozess völlig außerhalb unserer Kontrolle und unseres Einflussbereiches liegt. Wir beschäftigen uns also lieber mit Dingen, die uns das Gefühl geben, Kontrolle zu haben und die uns vergessen lassen, dass unser Leben endlich ist. Wir wiegen uns in Illusionen von Sicherheit und wollen weiter festhalten an dem, was wir haben. Je mehr wir jedoch festhalten wollen und uns dem Loslassen verweigern, tritt ein paradoxer Effekt ein...
Unser Leben scheint UNS zu leben, eine bizarre Eigendynamik zu besitzen, die uns davonträgt; am Ende haben wir das Gefühl, gar keine Wahl und keinerlei Kontrolle mehr zu haben. Natürlich fühlen wir uns manchmal schlecht deswegen, haben Albträume und wachen schweißgebadet auf mit der Frage: "Was mache ich eigentlich mit meinem Leben?" (Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben, Rinpoche, 2010:39)
Die gute Nachricht ist - wir brauchen keine Angst vor der Vergänglichkeit zu haben - und zwar deshalb, weil Vergänglichkeit nicht die Beendigung, sondern die Vorbedingung für Dinge ist, die wir genießen und die wir für das Lebendigsein benötigen! So verwelken zwar die Pflanzen im Herbst und scheinen vollkommen vergangen im Winter, doch dann wird es Frühling und neues Leben bahnt sich seinen Weg - die Knospen sprießen und bunte, intensive Blüten erblühen! Alles Leben verläuft zyklisch, ist also ein steter Kreislauf von Werden und Vergehen und wieder Werden und wieder Vergehen.
Lies folgendes Zitat von Buddha und spür in dich hinein, was es in dir auslöst:
Was geboren ist, wird sterben, was zusammengetragen wurde, wird zerstreut, was sich angehäuft hat, wird erschöpft, was aufgebaut wurde, wird zusammenbrechen, und was hoch war, wird niedrig werden.
Empfindest du beim Lesen dieser Zeilen Unruhe, Sorge, Enge oder Frustration? Vielen von uns geht es so. Doch Vergänglichkeit alleine bildet noch keinen Zyklus, keinen Rhythmus. Dafür braucht es nämlich auch das erneute Werden! Drehen wir die Sätze Buddhas um, so erleben wir etwas völlig anderes:
Was stirbt, wird neu geboren, was zerstreut ist, wird zusammengetragen, was erschöpft ist, wird sich anhäufen, was zusammenbricht, wird aufgebaut, was niedrig ist, wird hoch werden.
Die meisten Menschen konzentrieren sich in ihrem Leben nur auf das Werden und fragen sich ständig: Wir komme ich zu MEHR Geld, Zuneigung, Erfolg, Anerkennung, Glück, Liebe...?
Doch nur mit Werden alleine kann kein Leben existieren - nehmen wir als Beispiel unseren Herzschlag, unseren Atem, unseren Schlaf-Wach-Rhythmus. All diese lebenswichtigen Funktionen beinhalten Werden UND Vergehen. Würde unser Herz ohne Pause nur noch schlagen, hätten wir Herzrasen und würden alsbald an Herzversagen sterben. Würden wir nur einatmen, aber niemals ausatmen, würden wir an unserem Atem ersticken. Würden wir nur noch wach bleiben, ohne je zu schlafen, würden wir sterben. Du siehst - Lebendigkeit beinhaltet Vergänglichkeit.
Das Bewusstsein für Vergänglichkeit kann uns ein wunderbarer Wegweiser für mehr Achtsamkeit und Mitgefühl sein. Sind wir uns der Vergänglichkeit bewusst, so schätzen wir die Momente, die uns geschenkt werden, viel viel mehr. Wir erkennen den Wert von Begegnungen, von schönen Stunden mit unseren Liebsten, von Zeiten der Gesundheit und der Zufriedenheit. Man geht liebevoller mit sich und seinen Mitmenschen um und nimmt die eigene Existenz oder die von anderen nicht mehr für selbstverständlich.
Nimmt man sich hin und wieder ein paar Minuten Zeit, um über die Gewissheit der Vergänglichkeit zu reflektieren und langsam eine innere Akzeptanz dafür zu entwickeln, kann es geschehen, dass folgende Frage aufsteigt: "Gibt es denn wirklich nichts Verlässliches, das den sogenannten Tod überdauert?"
Nun, nicht zuletzt ist es die Lebenskraft selbst, die beständig ist und niemals aufhört zu sein. Egal, wie groß und endgültig die Zerstörung auch sein mag - irgendwo gibt es wieder diesen einen Funken, der neues Leben bringt und eine neue Phase des Werdens eröffnet. Dieser Funke des Lebens selbst steckt in allem, was ist.
Mit fortgesetzter Kontemplation und Übung im Loslassen entdecken wir in uns "etwas", das wir nicht benennen, beschreiben oder in Konzepte fassen können. [...] Plötzlich erheben wir uns über all das und schweben im klaren, grenzenlosen Himmel. Inspiriert und belebt durch diesen Aufstieg in eine neue Dimension von Freiheit, entdecken wir eine Tiefe des Friedens, der Freude und des Vertrauens in uns, die uns mit Staunen erfüllt und eine Gewissheit entstehen lässt, dass es in uns "etwas" gibt, das durch nichts zerstört oder verändert werden kann und nicht dem Tod unterworfen ist. (Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben, Rinpoche, 2010:62)
Zitatquelle: "Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben", Sogyal Rinpoche, 2010